Ambition

INTERVIEW: Erweiterter Schutzauftrag

08.04.2019

Die Digitalisierung zwingt den Prüfkonzern TÜV NORD nicht nur Menschen vor Technik, sondern auch Technik vor Menschen zu schützen. Der Vorstandsvorsitzende Dr. Dirk Stenkamp über norddeutsch-slowenische Beziehungen, Vertrauen im digitalen Zeitalter und warum Europa beim Thema künstliche Intelligenz keineswegs hinter China und den USA zurückfallen muss.

AMBITION: Sehr geehrter Herr Dr. Stenkamp, herzlichen Glückwunsch zu Ihrem neuen Amt als slowenischer Honorarkonsul. Wie stellen Sie sich den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen vor?

DR. DIRK STENKAMP: Als Honorarkonsul habe ich viele Anknüpfungspunkte zu meinen Aufgaben als Vorstandsvorsitzender von TÜV NORD: Wir sind international über alle Industrien, Branchen und Wissensgebiete ausgerichtet. Dabei ist der Bogen von sicheren Produkten für das Internet der Dinge, über digital vernetzte Industrie und Agrarwirtschaft bis hin zum autonomen Fahren gespannt. Dies sind entscheidende Zukunftsfelder für Slowenien und Niedersachsen mit hohem Synergiepotenzial.

AMBITION: Für welche Wirtschaftsbereiche möchten Sie sich besonders engagieren?

DR. DIRK STENKAMP: Meine Schwerpunkte sind Digitalisierung, erneuerbare Energien und Mobilität. In Slowenien arbeiten zum Beispiel mehr als 30.000 Menschen in der Autobranche. Auf Komponenten und Systemen für Motoren und Fahrzeugelektronik entfallen 20 % aller Exporte. Die Automobilwirtschaft ist auch in Niedersachsen die wichtigste Industriebranche. Für beide Seiten bieten sich gute Geschäftsmöglichkeiten, die ich stärker zusammenbringen möchte.

AMBITION: Was sind Ihrer Meinung nach die dringendsten Themen in slowenischen und deutschen Firmen?

DR. DIRK STENKAMP: Quer durch alle Branchen ist die digitale Transformation entscheidend. Die Arbeitswelt wird digitaler, flexibler und vernetzter, neue Berufsbilder entstehen – darauf müssen Mitarbeiter vorbereitet werden. Gleichzeitig ist es unsere Verantwortung, Perspektiven für die Menschen zu schaffen, deren Jobs mittel- bis langfristig ersetzt werden.

Auch abseits der Wirtschaftsbeziehungen spricht man in Niedersachsen gern von Slowenien. „Viele wissen, dass Slowenien ein tolles Reiseland mit hervorragender Küche und vielen touristischen Attraktionen ist, aus dem viele Agrargüter nach Niedersachen exportiert werden“, so Stenkamp. „In Niedersachen freuen wir uns übrigens sehr, dass mit Urban Lesjak und Nejc Cehte zwei hervorragende Handballer bei den RECKEN, unserem Erstligateam in Hannover, spielen. Beide sind eine tolle Werbung für Slowenien!“

AMBITION: Was tut Ihr Unternehmen, um die Belegschaft für Digitalisierung und künstliche Intelligenz (KI) zu wappnen?

DR. DIRK STENKAMP: Wir haben bei TÜV NORD einen eigenen, sehr erfolgreichen Ansatz entwickelt: In der konzerneigenen „Digital Academy“ durchlaufen Mitarbeiter ein speziell auf künftige Kundenanforderungen ausgerichtetes Befähigungsprogramm. Dienstleistungen und Prüfinstrumente werden bei uns im Haus digital weiter oder gänzlich neu entwickelt. Damit können sich die Kolleginnen und Kollegen sofort identifizieren, weil sie die Veränderung selber gestalten und umsetzen. Dieses Programm bieten wir zwischenzeitlich auch unseren Kunden als maßgeschneiderte Dienstleistung an und stoßen dabei auf hohes Interesse, insbesondere bei Mittelständlern und Behörden.

AMBITION: Inwieweit hat die Digitalisierung die Arbeit von TÜV NORD verändert?

DR. DIRK STENKAMP: Im Zuge der Digitalisierung und Vernetzung der Dinge erleben wir die spannendste Phase unserer 150-jährigen Unternehmensgeschichte. Früher haben wir die mechanische und elektronische Funktionalität von Produkten und Prozessen geprüft, heute ist die IT-Sicherheit genauso wichtig. Industrieroboter, selbstfahrende Autos oder die Strom- und Wasserversorgung müssen vor Cyberkriminellen geschützt sein. Damit erweitert sich unser Schutzauftrag: Neben dem Schutz der Menschen vor der Technik müssen wir auch die Technik in Form von Industriemaschinen oder Consumer-Produkten vor Daten- oder Programm-Manipulation durch Menschen schützen.

AMBITION: Welches Produkt hat den größten Einfluss auf unser Geschäfts- und Privatleben?

DR. DIRK STENKAMP: Bisher das Smartphone. Ich selbst bin viel unterwegs, das Smartphone ist meine Kommunikationszentrale und Datenplattform an jedem Ort der Welt, zu jeder Zeit. E-Mails lesen und beantworten, Abläufe organisieren, Fotos machen, sich mit Freunden austauschen, immer auf dem neuesten Nachrichtenstand bleiben und telefonieren: Das Smartphone hat unser Leben in allen Bereichen verändert. Es ist der Puls der Vernetzung. Eine durchschlagende App wie booking.com oder mytaxi kann klassische Geschäftsmodelle in kürzester Zeit überflüssig machen.

AMBITION: Als Technologie-Dienstleister steht TÜV NORD für Sicherheit und Vertrauen. Wie können Sie helfen, Risiken im digitalen Zeitalter abzuwehren?

DR. DIRK STENKAMP: Nur einige Beispiele: Persönliche Daten und das geistige Eigentum von Unternehmen müssen vor Hackerangriffen geschützt werden. Dafür bietet unsere TÜViT weltweit Schutzmaßnahmen und Zertifizierungen an: vom IT-Grundschutz bis zu hochkomplexen Lösungen für Großrechenzentren internationaler Banken oder hochsicherer Verschlüsselungssysteme für sensible Daten; so schützen wir beispielsweise Kredit- und Gesundheitskarten vor Missbrauch. TÜV NORD entwickelt auch zukunftsweisende Vorschläge, wie digitale Fahrzeugdaten vor dem Zugriff unbefugter Dritter geschützt werden können. Nicht zuletzt bieten wir jährlich Hunderte Schulungen für die neue europäische Datenschutzverordnung an.

AMBITION: Drohen Europa und speziell Deutschland nicht aufgrund besonders strenger Sicherheitsauflagen im internationalen Vergleich bei den Themen Industrie 4.0 und KI zurückzufallen?

DR. DIRK STENKAMP: Für die Industrie 4.0 gesprochen bilden europäische und im Besonderen deutsche Firmen die Weltspitze der industriellen Digitalisierung, z. B. in der Prozessautomatisierung und Robotik. Diese Firmen haben erkannt, dass Produktentwicklung auf der Basis hoher IT-Sicherheitsstandards in einen starken Wettbewerbsvorteil münden. Nur wer IT-sichere Produkte entwickelt, gewinnt langfristig das Vertrauen der Kunden und damit Marktanteile. Dieses gilt auch für KI im Industriesektor. Auf der bevorstehenden Hannover Messe werden Datensicherheit und Datenschutz in der Industrie wieder zu den wichtigsten Themen gehören.

AMBITION: Warum liegt Europa dann bei Digitalisierung und KI hinter den USA und China zurück?

DR. DIRK STENKAMP: In diesen Ländern wird in ganz anderen Größenordnungen in KI-Forschung und Startups investiert. In den USA steht deutlich mehr Wagniskapital zur Verfügung, in China werden Zukunftsfelder zentralistisch vorgegeben. Um mit dieser Vormacht schrittzuhalten, benötigen europäische Unternehmen die kartellrechtliche Freiheit, zu Global Playern fusionieren zu dürfen – wie vor 50 Jahren bei der Fusion zu AIRBUS. Auch die Forschung muss wieder stärker im europäischen Verbund organisiert werden: Wir brauchen klare Schwerpunktsetzungen und mehr Kooperationen von Wissenschaft und Wirtschaft über Ländergrenzen hinweg. Den Rahmen dafür muss die Politik in Brüssel und den EU-Mitgliedsländern setzen.

AMBITION: Was können Unternehmen aus unterschiedlichen EU-Staaten wie Deutschland und Slowenien in der Zusammenarbeit tun, um gegenüber den KI-Technologieführern USA und China aufzuholen?

DR. DIRK STENKAMP: Jeder muss seine Stärken einbringen. Historisch betrachtet kommen viele innovative KI-Konzepte aus dem deutschsprachigen Raum, es gibt bei uns eine breite und gut aufgestellte Forschungslandschaft. Slowenien hat den Vorteil, ein vergleichsweise kleines, aber dadurch hoch flexibles Land mit gut ausgebildeten jungen Menschen zu sein. Dies ermöglicht es, gänzlich neue Dinge in kurzer Zeit auszuprobieren, beispielsweise ein Testfeld für autonomes Fahren. Diesen Standortvorteil hat Slowenien bereits erkannt.

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